Über die vermisste und gefundene Liebe zu meinem Papa

 

Dies war und ist mein Papa! Am 1. Februar 2023 ist er mit fast 93 Jahren gestorben. Über unserer Beziehung und meine Erfahrung mit seinem Tod habe ich einen Text geschrieben. Ich habe den Wunsch verspürt, diesen Text mit der Welt zu teilen und hier auf die Website zu stellen. Gleichzeitig habe ich mich gefragt, ob dies unpassend oder pietätlos sei.

 

Bei der Überlegung habe ich bemerkt, dass es eigentlich ein Text über Beziehung und Liebe ist – über die vermisste und gefundene Liebe zu meinem Papa - und dass der Tod bei der Liebe helfen kann. Daher halte ich ihn für passend und glaube, dass auch mein Papa mit der Veröffentlichung einverstanden gewesen wäre. Bitte lies ihn, wenn du Zeit und Muse dafür hast und im Bewusstsein, dass er sehr persönlich ist.

 

 

In Gedenken an meinen Papa

 

Als Kind habe ich ihn „Vater“ genannt, was für mich im Nachhinein ziemlich unpersönlich klingt. So empfand ich auch unsere Beziehung: unpersönlich. Ich bewunderte ihn, weil er durch Südamerika gereist war, weil er auf jede Frage eine Antwort wusste, weil er Gedichte auswendig aufsagte und weil er der Chef einer großen Klinik war. Es machte mich stolz, dass ich das Privileg hatte jederzeit zu ihm ins Büro zu gehen. Aber ich habe keine Erinnerung daran, dass er mich in den Arm genommen oder mit mir Vater-Sohn-Ausflüge gemacht hätte. Ich wünschte mir Zuneigung und Interesse an mir. Irgendwann resignierte ich und mochte es nicht mal mehr, wenn er mir zum Abschied mit seinem Daumen ein Kreuz auf die Stirn malte und sagte „Der liebe Gott beschütze dich“.

 

Als Erwachsener war ich wütend auf ihn und verweigerte für lange Zeit den Kontakt. Bei einem Familienfest in Dresden im August 2001 – ich war 30 und er 71 Jahre alt - traf ich ihn wieder und irgendetwas in mir ließ mich die Chance ergreifen, etwas nachzuholen: Ich fragte ihn, ob er mit mir einen Vater-Sohn-Ausflug in seine Heimat Neusalz in Niederschlesien, dem heutigen Nova Sol in Polen – machen würde. Ich wollte mehr über seine und somit auch meine Herkunft erfahren. So fuhr er mit mir die Strecke, die er im Februar/März 1945 nach dem Bombenangriff auf Dresden zu Fuß zusammen mit seiner Mutter gegangen war – immer mit der Angst vor Soldaten und Gefechten. Zu jedem Dorf, durch das wir kamen, erzählte er mir unvorstellbar schlimme Erinnerungen. Doch bei all dem Schrecken wurde gleichzeitig etwas weich in mir: Meine Verurteilung über ihn wich dem Mitgefühl über das, was dieser 15-jährige damals erleiden musste. Im Gegensatz dazu war es schön zu hören, was für eine abenteuerliche und verspielte Kindheit er in Neusalz erlebt hat. Diese Reise war der zarte Anfang einer neuen Verbindung.

 

Als mein Vater 82 Jahre alt war, ging er in ein Pflegeheim. Dies war der wundersame Wendepunkt in seinem Leben: ab dem Moment des Umzugs wurde er weicher und offener – niemand konnte erklären, wie dieser Umschwung passierte – auch er nicht. So eröffnete er mir die Möglichkeit ihn neu kennenzulernen.

 

Es folgten Jahre, in denen ich ihn immer häufiger besuchte und den Wunsch verspürte, ihm sein Alter zu verschönern, indem ich ihm kleine Geschenke machte, wie z.B. den Schal auf dem Foto. Wir sprachen immer öfter über sehr persönliche Themen. Besonders freute ich mich, als er das Thema Sexualität ansprach – ich glaube, wir haben uns nie zuvor darüber unterhalten. Irgendwann erzählte ich ihm über mein Erleben als Kind. Ich konnte dies inzwischen ohne Vorwurf tun und es war nicht schlimm, dass er sich nicht erinnerte. Das Entscheidende für mich war, dass ich es aussprechen konnte und er es hörte.

 

In den letzten Wochen seines Lebens, als seine Sehfähigkeit noch 2 Prozent betrug, er nur Brei essen und nicht mehr aus dem Bett aufstehen konnte, durfte ich manchmal Dinge für ihn tun, die sonst Eltern für ihre Kinder machen: Ich räumte sein Zimmer auf, fütterte ihn, rasierte sein Kinn und massierte ihm die Füße. Ich war erstaunt darüber, wie weich sich seine Haut anfühlte. Manchmal umarmten wir uns und kuschelten ein wenig schüchtern. Mit 50-jähriger Verspätung bekam ich den ersehnten Körperkontakt und wir genossen es beide. Nach und nach tauchten in mir Erinnerungen auf, die ich als Kind mit ihm erlebt hatte: Wir knacken zusammen Walnüsse, ich darf ihm beim Puzzeln helfen, er zeigt mir, wie man Auto fährt und lässt mich über den Hof fahren - persönliche Momente zwischen ihm und mir, die ich hinter all dem Unangenehmen verdrängt hatte.

 

Auf einem Heilungsseminar machte uns der Leiter, ein Schamane der peruanischen Shipibo, den Vorschlag unseren Eltern einen Satz zu sagen. Als ich meinen Vater kurze Zeit später wiedersah, tat ich es: „Papa, ich liebe dich! Ich danke dir für alles, was du mir geschenkt hast und ich verzeihe dir alles, was nicht gut für mich war.“. Er sah mich lange an und sagte „Das erleichtert mich.“. Diese Erleichterung war in uns beiden spürbar.

 

Bei den folgenden Treffen machte er viele Späße und wir lachten zusammen. Wir erzählten uns gegenseitig Gedichte und schließlich sprachen wir darüber, wie er sich seine Beerdigung wünschte: Er wünschte sich, dass sein Körper verbrannt werde. Seine Asche solle an einem Baum in einem Friedwald beigesetzt werden, damit sich niemand um das Grab kümmern müsse, denn wir Verwandten und Freunde sollten nur kommen, wenn wir Lust dazu hätten. Und das Schönste wäre, wenn sein Schwiegersohn Panflöte spielen und die Menschen zu südamerikanischer Musik tanzen würden. Es solle ein „Fest der Freude“ sein. An diesem Tag verabschiedeten wir uns, indem ich ihm einem Impuls folgend ein Kreuz auf die Stirn malte und sagte „Der liebe Gott beschütze dich, mein Papa“. Und er malte mir ein Kreuz auf die Stirn und sagte „Der liebe Gott beschütze dich, mein Sohn“. Es war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah.

 

Eine Woche später erfuhr ich von meinem Bruder, dass unser Vater sehr schwach war und womöglich bald sterbe. Als ich am nächsten Tag zu ihm fuhr, erreichte mich die Nachricht von seinem Tod noch im Zug. Es fühlte sich merkwürdig an, zwischen den vielen unbekannten Menschen so eine Botschaft zu bekommen und zu trauern.

 

Ein paar Stunden später kam ich mit meinem Bruder in das Pflegeheimzimmer, das mir inzwischen so vertraut war. Der Körper unseres Vaters lag da auf seinem Bett, aber der Atem bewegte ihn nicht mehr. Bevor die Pflegerin uns mit dir alleine ließ, berichtete sie uns, dass er kurz nachdem er noch einen Kaffee getrunken hatte, in Klarheit und Ruhe und ohne Schmerzen gestorben sei. Ich streichelte seine Hände, die etwas kühl und doch noch immer so weich waren. Ich kuschelte mich an ihn, um im wahrsten Sinne des Wortes zu be-greifen, dass er nicht mehr anwesend war. Es schmerzte mich, dass er ging, jetzt wo ich „meinen Papa“ gefunden hatte. Und gleichzeitig war ich dankbar für die Tränen, die ich nun um ihn weinen konnte. Am Ende unserer Vater-Sohn-Reise sind wir beieinander angekommen.

 

Als ich eine Woche später mit meiner Schwester im Krematorium zusah, wie der Sarg in den Ofen fuhr, hatten wir die Erkenntnis, dass genau diese Transformation für das Leben notwendig ist. Weil seine Zeit endlich war, habe ich sie zu schätzen gelernt. Dadurch, dass er vor mir gestorben ist, wird mir bewusst, wie kostbar das Leben ist und - dass es meine Entscheidung ist meinen Papa zu lieben.

 

Ruhe in Frieden!
Danke, dass du mein Papa warst und bist!

 

Karl Eberhard Gottwald

  • * 21.02.1930
    Neusalz/Oder

    01.02.2023
    Heidesheim/Rhein


 

 

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